Eiszeit in Havanna?

Eine notwendige Gegendarstellung

Von Günter Belchaus

Der Artikel von Jérôme Cholet über Prozesse, die in Kuba im März und April vergangenen Jahres gegen "Oppositionelle" und die Entführer einer Hafenfähre stattgefunden haben (ai-JOURNAL 5/2004, S. 32 f.) und über die aktuellen Haftbedingungen der Verurteilten, hat mich in einen schwerwiegenden Loyalitätskonflikt gestürzt: Einerseits bin ich aktives ai-Mitglied, andererseits fühle ich mich mit Kuba in Freundschaft und Solidarität sehr stark verbunden. Seit 1997 war ich elfmal, mal länger, mal kürzer in Kuba. Ich denke, man nimmt mir deshalb ab, daß ich die dortigen Verhältnisse und Geschehnisse ein wenig kenne und richtig einordnen kann.

Was mich veranlaßt, die Aussagen von Cholet nicht unwidersprochen stehen zu lassen, ist eine gewisse Eindimensionalität, um nicht zu sagen: Einseitigkeit seiner Darstellung. Entweder liegen dem Autor nicht alle relevanten Informationen vor oder aber er hat sie und unterdrückt sie bewußt. Wir erfahren von ihm etwas über Wirkungen. Über die Ursachen sagt er nichts. Schon die Vorgeschichte, aber auch die Hintergründe der kritisierten Gerichtsverfahren erwähnt er mit keinem Wort.

Um die Ereignisse, die Cholet beklagt, zu verstehen und richtig zu bewerten, sollte man sich bewußt sein, daß sich Kuba praktisch seit 1959 in einem mal heißeren, mal etwas abgekühlteren Kriegszustand mit den USA befindet.

Unter der Präsidentschaft von Bush hat sich das Verhältnis zwischen den Nachbarländern Kuba und den USA dramatisch verschlechtert, wofür man Kuba nicht verantwortlich machen kann. Bekanntlich verdankt Bush seine Wahl zum US-Präsidenten letztlich den Wählern in Florida und diese sind zu einem großen Teil Exil-Kubaner, die der Regierung unter Fidel Castro gegenüber mehr als feindlich eingestellt sind. Um diese für sich - und für seinen Bruder Jeb, der Gouverneur in Florida ist und es auch bleiben möchte - einzunehmen, läßt er nichts aus, was zu einer Destabilisierung und letztlich zum Sturz der Regierung Castro führen könnte. Das bewegt sich zwischen Eskalation der wirtschaftlichen Zwangsmaßnahmen gegen Kuba bis hin zur unverhohlenen Androhung militärischer Gewalt.

Die sogenannten Dissidenten oder, wie sie Cholet nennt, Oppositionellen stellen in diesem Rahmen für Washington einen sehr bedeutsamen Faktor dar, den sie sich auch nicht zu wenig kosten lassen. Es ist kein Geheimnis und wird auch von den Verurteilten nicht bestritten, daß sie in jeder Hinsicht von der Interessenvertretung der USA in Kuba, also auch materiell in Gestalt von regelmäßigen oder gelegentlichen Dollar-Zahlungen, unterstützt und ermuntert worden sind. James Cason, der Leiter der Interessenvertretung, hat öffentlich und nachlesbar verkündet, daß er als seine Hauptaufgabe in Kuba ansieht, einen Regimewechsel herbeizuführen. Mir ist deshalb noch immer nicht die Geduld der Regierung in Havanna ihm gegenüber verständlich. Wenn ich dort das Sagen hätte, ich hätte ihn längst zur persona non grata erklärt. Daß die "Oppositionellen" in Kuba als "mercenarios" (Söldner) bezeichnet werden, man könnte sie auch Kollaborateure nennen, ist unter diesen Umständen kaum zu beanstanden. Das alles kann man nachlesen, wenn man es will. Allgemein zugängliche Quellen sind reichlich vorhanden (s. z. B. die Schriften "Los Disidentes" oder "El Camaján"). Zu den Verhaftungen, den Verfahren und den Urteilen hat sich des weiteren der kubanische Außenminister in einer ausführlichen Pressekonferenz geäußert, was hierzulande jedoch kein Echo gefunden Wenn sich aber Kuba zur Zeit verzweifelt dagegen wehrt, von den USA - wie auch immer - vereinnahmt zu werden, und dergestalt mit dem Rücken zur Wand steht, dann dürfte zumindest nachvollziehbar sein, daß die dortige Regierung die ihr zur Verfügung stehenden Mittel gegen diejenigen ihrer Mitbürger einsetzt, die ihr Land an die USA ausliefern wollen. Das halte ich nicht für illegitim. Kein Staat auf der Welt, auch nicht der unsrige würde dulden, daß im Zusammenspiel mit einer fremden, extrem feindseligen Macht versucht wird, Souveränität und politisches System zu beseitigen. Deutschland wehrt sich dagegen in der Tendenz mit der Bestimmung des § 81 Abs. 1 StGB. Hiernach wird als Hochverräter im Höchstfalle mit lebenslanger Freiheitsstrafe bestraft, wer es unternimmt, den Bestand der Bundesrepublik zu beeinträchtigen oder die auf dem Grundgesetz beruhende verfassungsmäßige Ordnung zu ändern. Den Bestand der Bundesrepublik in diesem Sinne beeinträchtigt unter anderem, "wer ihre Freiheit von fremder Botmäßigkeit aufhebt" (§ 92 Abs. 1 StGB), die verfassungsmäßige Ordnung ändert, wer tragende Verfassungsgrundsätze beseitigen, außer Geltung setzen oder untergraben will (§ 92 Abs. 3 Nr. 3 in Vbdg. mit Abs. 2 StGB). Das aber gerade sind die erklärten Ziele, die die USA mit der Anwerbung und Unterstützung von "Oppositionellen " in Kuba verfolgen. Der guten Ordnung und der Vollständigkeit halber ist in diesem Zusammenhang auch noch daran zu erinnern, daß nach den Artikeln 1 und 2 der Charta der Vereinten Nationen das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu respektieren und daß Bedrohungen der politischen Unabhängigkeit eines Staates zu unterlassen sind. Diese Prinzipien werden verdeutlicht in der UN-Erklärung über Grundsätze des Internationalen Rechts, freundliche Beziehungen und Zusammenarbeit zwischen den Staaten betreffend, vom 24. Oktober 1970. Es mag einem gefallen oder nicht, es ist hiernach Unrecht, den Kubanern von außen her ein anderes politisches System aufzwingen zu wollen, und Kuba wird man deshalb auch nicht die Berechtigung absprechen können, sich entsprechend zu wehren.

Cholet meint, daß der "kubanische Oppositionsführer" Osvaldo Payá "wohl einzig deshalb davongekommen ist, weil er international zu bekannt war." Ich sehe das ein wenig anders: Payá ist in erster Linie kubanischer Patriot und respektiert die in Kuba geltenden Gesetze.

Das allein dürfte ihn vor Strafverfolgung bewahrt haben und bewahren.

Cholet macht weiterhin - unter Berufung auf Payá - geltend, die Haftbedingungen der Verurteilten seien ausgesprochen schlecht. Auch hierzu gibt es gegenteilige Äußerungen, auf die der Autor indessen nicht eingeht. Das kubanische Außenministerium hat unlängst eine Information herausgegeben, die der UN-Menschenrechtskommission in Genf vorgelegt worden ist und nach der die Verurteilten ordnungsgemäß untergebracht, verpflegt und medizinisch versorgt werden. Umfangreich wird dort insbesondere zu dem Fall des auch von Cholet erwähnten Oscar Espinosa Chepe Stellung genommen und über die Vielzahl der medizinischen Maßnahmen, die Espinosa zuteil geworden sind, berichtet (s. www.cubaminrex.cu/CDH/60cdh/La verdad sobre los juicios). Familienangehörige der Gefangenen kamen im kubanischen Fernsehen zu Wort. Sie haben die Haftbedingungen nicht kritisiert. Ihre Erklärungen sind ebenfalls der UN-Menschenrechtskommission vorgelegt worden (s. www.cubaminrex.cu/Actualidad/2004/ Entrevista de la TV Cubana).

Soweit es um die Verhängung und Vollstreckung von Todesstrafen gegen drei Entführer einer Fähre geht, ist folgendes zu bemerken: Cholet verharmlost die Tat, wenn er schreibt, die Verurteilten hätten "versucht, mit einem gekaperten Boot das Land zu verlassen". Das "Boot" war eine Hafenfähre, die die Altstadt von Havanna mit den Stadtteilen Regla und Casablanca verbindet (auch ich habe sie des öfteren benutzt) und die für eine Fahrt über hohe See absolut ungeeignet war. Auf ihr befanden sich Passagiere, unter anderem ausländische Touristen, die durch die Entführung in große Gefahr für Leib und Leben gebracht wurden. Auch hierzu gibt es eine Vorgeschichte: Entgegen bestehenden Abmachungen zwischen Kuba und den USA hat die Interessenvertretung der USA unter der Leitung von James Cason wesentlich weniger "Greencards" für die Übersiedlung in die USA ausgegeben als vereinbart, was zu einer Reihe von "Verzweiflungstaten", nämlich Entführungen von Flugzeugen und Wasserfahrzeugen in Richtung Florida geführt hat. Gleichzeitig drohten die US-Behörden Kuba Sanktionen an für den Fall, daß diese Entführungen nicht aufhörten, weil dies die Sicherheit der USA bedrohte. Um dem Vorwurf zu begegnen, ich nähme einseitig und unkritisch Partei für die kubanische Seite, mache ich geltend, daß ich wohl einer der ersten war, der - in einem Brief an den kubanischen Botschafter - energisch gegen die Todesurteile protestiert hat. In dem deutschsprachigen Ableger der Parteizeitung "Granma" ist ferner ein entsprechender Leserbrief von mir, und zwar unzensiert und in voller Länge, abgedruckt worden. Geschadet hat mir das nicht (das auch zum Thema Unterdrückung der Meinungsfreiheit in Kuba!). Im übrigen weiß ich, daß in Kuba zur Zeit ernsthaft darüber nachgedacht und daran gearbeitet wird, die Todesstrafe abzuschaffen. Es sieht ganz danach aus, daß dies in Kuba früher der Fall sein wird als etwa in den USA.

Mein Fazit lautet: Wir alle sollten vorsichtig, vielleicht auch ein wenig nachsichtiger mit den Kubanern sein und uns vor vorschneller Verurteilung hüten. Die USA manipulieren mit allen Mitteln die öffentliche Meinung, um Kuba zu isolieren, damit sie bei passender Gelegenheit die Insel auch militärisch angreifen können. Dem müssen wir entschieden entgegentreten. Was passiert und welche Konsequenzen es hat, wenn die USA daran gehen, andere Völker zur Demokratie zu bekehren, das kann man heute in Irak besichtigen. Ich setze mich für Kuba auch deshalb ein, weil ich meinen vielen Freunden dort das Schicksal ersparen möchte, das die Bevölkerung des Irak erlitten und zur Zeit noch zu erleiden hat.

Zu guter Letzt: Bisher habe ich mich auf Hintergrundinformationen von ai stets bedenkenlos verlassen. Hier aber, wo ich mich auf eigene Erkenntnisse und Erfahrungen stützen kann, bekomme ich Zweifel, ob mir das auch weiterhin möglich ist. Ich hoffe aber, daß der Artikel von Cholet als Namensartikel nicht die Meinung von ai oder die der Redaktion wiedergibt. Eins ist sicher: den auf Seite 37 angeregten Appellbrief zu Gunsten von 79 gewaltlosen Gefangenen in Kuba werde ich nicht schreiben.

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