Stell dir vor

Ein Poem von Aurora Levins Morales

Am 23. Juli beging das "National Committee to Free the Cuban Five" den zehnten Jahrestag seiner Gründung und seines zehnjährigen Kampfes, bei der Befreiung der Cuban Five zu helfen.
Bei dieser Veranstaltung las die "Bay Area"- Poetin Aurora Levins Morales Ausschnitte aus dem folgenden bewegenden und poetischen Tribut an Kuba und die Cuban Five vor. [ Hier können Sie ihre Lesung hören und unten können sie das ganze Gedicht lesen.]

Stell' dir vor, du lebst in einem Land, das sich von fünf Jahrhunderte andauernder Fremdherrschaft befreit hat, indem aus Herrenhäusern und Gesellschaftsclubs auf dem Land Schulen, Krankenhäuser, Erholungszentren für die dort wohnenden Menschen des Landes gemacht wurden. An einem Ort mit so fruchtbarem Boden für Solidarität, wo alle zusammenhalten, blüht die Schaffenskraft, weil man in so einem Land den Willen dazu hat und für einander da ist. Stell' dir vor, dass du dieses Land von ganzem Herzen liebst, wie sehr du auch beklagen magst, Schlange stehen zu müssen.

Stell' dir vor, dieses geliebte Land ist den ständigen Anschlägen seiner früheren Kolonialherren ausgesetzt. Stell' dir vor, sie versuchen dir Nahrung, Medizin, Treibstoff und Werkzeug zu entziehen, dass sie alles tun, um dich für die Anmaßung, deine Unabhängigkeit erklärt zu haben, leiden zu lassen. Stell' dir vor, dein Land wird ausgesperrt, blockiert, belagert, um dich daran zu hindern, dein gefährlichstes Produkt an die Armen des Kontinents zu exportieren: die Hoffnung. Stell' dir vor, deine Dichter besingen, dass ein Licht, das sich selbst entzündet und mit eigener Flamme brennt, nicht gelöscht werden kann, sondern durch die Dunkelheit bis zu den Küsten anderer Länder strahlt.

Stell dir vor, jeder korrupte Politiker, jeder Todesschwadronen-Kommandant, jeder den Putsch planende Obrist, jeder Gangsterboss, jeder Großgrundbesitzer und Monopolist des Kontinents weiß es, jeder Unterhändler für ausländische Interessen an Bodenschätzen, jeder von der CIA ausgebildete Diplomat, der die Interessen an Privatisierung von absolut allem vertritt, weiß es und bemüht sich verzweifelt, dieses Licht zu löschen.

Stell' dir vor, dass dein Land an jedwedem Tag von den Banden der enteigneten Verbrecher aus der Vorgeschichte deines Landes überfallen wird, von den gestrigen Herren Ausbeutern und Opportunisten - außer sich vor Wut, weil nicht mehr in der Lage, alles an sich zu reißen, von denen, die sich im Patio ihrer Ex-Herren niedergelassen haben, wo sie doch immer mit Geld, Waffen und Anweisungen versorgt wurden. Stell dir vor, sie bombardieren deine Hotels, lassen Seuchen vom Himmel regnen, und sprengen deine Flugzeuge. Stell dir vor, sie ermorden junge Lehrer, die ausziehen aufs Land, um der Bevölkerung das Alphabet zu bringen, die in zu großer Armut aufwuchs, um lesen zu lernen. Stell dir vor, sie träumen von dem Tag, an dem sie deine Kinder gegen ein Entgelt von einem Stück Brot ihre Schuhe blank wienern lassen. Stell dir vor, was Unabhängigkeit in solchen Zeiten und an so einem Ort bedeutet: Sie bedeutet tägliche Gefahr.

Stell' dir vor dein Bruder, dein Liebster, dein Cousin, dein Nachbar, dein bester Freund, der dich liebt und die Möglichkeiten dieses Landes, dass er sein Leben und sein Glück riskiert, dein Land verlässt und diese Gangsterbande unterwandert, um herauszufinden, was geplant wird, um Schaden abzuwenden und sie aufzuhalten. Weil die Regierung dieser Ex-Herren es nicht tun, obwohl diese Gangster jedes geschriebene Gesetz brechen und sich, während sie auf der Hauptstraße flanieren, noch damit brüsten. Stell' dir vor, diese fünf Männer geben sowohl an die Regierung ihrer Ex-Herren wie an ihre eigene Regierung gewissenhaft weiter, was sie erfahren haben, obwohl sie wissen, dass sich die Verbrecher - finanziert und losgesprochen von ihren Gastgebern - weiter bewaffnen werden.

Stell' dir vor, diese tapferen, vielgeliebten Männer werden ergriffen, ins Gefängnis gesteckt, des Tageslichts beraubt, monatelang unter Verstoß gegen Gesetz und Anstand in Isolationshaft gesperrt und des Verrats, der Ausspionierung des Landes, der Gefährdung der Sicherheit eines Imperiums angeklagt. Stell' dir vor, dass sie von den engsten Gefährten der selben Leute gerichtet werden, die sie versucht haben, daran zu hindern, dich zu töten.
Stell dir vor, Tag für Tag verweigert das Gericht ihnen auch nur den Anschein eines gerechten Verfahrens, verhängt Strafen, lehnt Beweismittel ab, schert sich von Anfang an nicht um die Wahrheit. Stell dir vor, man verweigert ihnen das Recht, von ihren Frauen, von ihren Kindern, die ohne sie aufwachsen, besucht zu werden.

Stell dir vor, es wäre dein Bruder, dein Liebster, dein Cousin, dein Nachbar, dessen einziges Verbrechen es war zu versuchen, dich vor skrupellosen Menschen zu beschützen, der nichts anderes tat, als Informationen über wirkliche Terroristen zu sammeln, die wahllos Zivilisten ermorden, weil sie wieder der Herr sein wollen. Stell dir vor, wie sie ein Jahr lang ununterbrochen im Dunkeln sitzen. Stell dir vor, wie sie sich im Dunkeln selbst etwas vorsingen, sich an das Sonnenlicht auf deinem Gesicht erinnern und an all' die Menschen, die jetzt lesen und zum Arzt gehen und so viel studieren können, wie sie wollen.

Stell dir vor, es gibt kein Visum, das dich in den Raum bringen könnte, in dem du deine Hand auf die eine Seite der Glasscheibe legen kannst, Finger für Finger auf die Hand dieser Männer auf der anderen Seite. Also malst du ihre Gesichter auf jede Wand und bittest die Welt, dass sie befreit werden, arbeitest Tag und Nacht, um sie zurück zu bekommen. Jahre vergehen und die Eltern werden alt und sterben und die Kinder wachsen auf und gehen zur Universität, die Landschaft verändert sich ohne sie, aber du gibst nicht auf. Du nennst jeden Tag ihre Namen, an jeder Ecke, und du rufst alle Menschen überall in der Welt dazu auf, ihre Namen zu nennen und für sie zu streiten und dafür zu arbeiten, sie zurück zu bekommen.

Nun stell dir vor, was es bedeutet, wenn im Herzen genau des Landes, das diese geliebten Männer gestohlen hat, die Menschen, die dort leben, an deiner Stelle vor dem Gefängnis stehen. Stell dir vor, dass Menschen in diesem fremden Land, in dem deine Helden hinter Gittern schlafen, aufstehen und ihre Namen nennen, für ihre Anwälte Geld sammeln, Briefe schreiben, Erklärungen verfassen, Artikel schreiben, ihre eigene Regierung anschreien, ins Fernsehen und ins Radio gehen, Flugblätter verteilen, Internet-Kampagnen veranstalten, diese Geschichte erzählen und fordern, dass sie freigelassen werden.

Es gibt kein Visum, das dich zu ihnen bringt, aber es gibt eine Liebe, die von diesen Menschen, die an den Toren stehen, unter den verschlossenen Türen, über kaum beleuchtete Flure fließt und sie mit dem Atem der Freiheit erreicht. Du hast noch nicht die Freiheit einer offenen Tür, einer Straße mit lächelnden Nachbarn und dem eigenen Land unter den Füßen erreicht, aber du weißt, dass es eine andere Freiheit gibt, die ihnen kein Gefängniswärter nehmen kann. Du weißt, dass der Mut ihrer Herzen, die Klarheit ihrer Gedanken, ihr ungebrochener Geist angesichts einer scheinbar endlosen Ungerechtigkeit, genährt werden von diesen Stimmen außerhalb der Mauern, verstärkt und von Hand zu Hand weitergegeben. Die Kundgebungen, die Unterstützung, die Plakate, die Lieder, alle tragen dazu bei.

Alles, was du dir vorgestellt hast, ist wahr. Die fünf geliebten Männer heißen Gerardo, René, Ramón, Antonio und Fernando. Du bist der Mensch, der im Herzen dieses Landes wohnt. Du bist derjenige, der vor den Toren stehen kann. Es gibt einen Grund dafür, dass dein Staat diese Männer brechen will. Er will, dass das Licht verlischt. Er will die Hoffnung verbergen. Er will nicht, dass Menschen davon träumen, ihr Land in die eigenen Hände zu nehmen. Wenn du vor den Toren dieser Gefängnisse stehst, in denen diese Männer eingesperrt sind, stehst du an der Tür deiner eigenen Zelle. Komm, lege deine Hand auf dieses schusssichere Glas. Halte deine Finger auf die ihren. Stimmt eure Träume auf einander ab. Betrachte, was zwischen euren Händen wächst. Es brennt mit seinem eigenen Licht.

www.auroralevinsmorales.com

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db)

(Quelle: freethefive.org) vom 25. Juli 2011

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