Anwalt Leonard Weinglass: "Es gibt 40 Seiten mit ideologischen Vorurteilen in der neuen Entscheidung von Atlanta"

ARLEEN RODRIGUEZ DERIVET, 9. Juni 2008

Ein Drei-Richter-Gremium des 11th Circuit Court of Appeals of Atlanta bestätigte am Mittwoch [letzter Woche] die Schuldsprüche gegen die Cuban Five, die seit 1998 Gefangene in den Vereinigten Staaten sind. Außerdem annullierte es die Strafen von dreien der Männer und ordnete eine Neufestlegung der Strafen in Miami an. Die Strafen für René González (15 Jahre) und Gerardo Hernández (zweimal lebenslänglich + 15 Jahre) wurden aufrecht erhalten. Im Fall von Hernández stimmte das Gremium mit 2:1. Eine 16 Seiten umfassende (Minderheiten-) Meinung von Richterin Phyllis Kravitch besagt, die Regierung habe nicht genügende Beweismittel vorgelegt, die ausreichen, um Gerardos Schuld im Anklagepunkt Verschwörung, Mord begehen zu wollen, beweisen.
Der Fall von Ramón Labañino (lebenslänglich + 18 Jahre), Fernando González (19 Jahre) und Antonio Guerrero (lebenslänglich + 10 Jahre) wurde zur Neufestlegung der Strafen an das Gericht in Florida verwiesen. Es wird Richterin Joan Lenard sein, die eine Anhörung über die Neufestlegung ankündigen wird. Die vorsitzende Richterin, die 2001 die harten Urteile gegen die Cuban Five fällte. Die 99 Seiten lange Entscheidung des Berufungsgerichts von Atlanta, die ausdrücklich die Position der Regierung bevorzugt, ist in einer politisch geladenen Sprache verfasst, die für juristische Texte unüblich ist. Es wird behauptet, die Argumente der Angeklagten in ihrer Berufung seien "wertlos".
Am Donnerstag, dem 5. Juni, wurde in der Sendung "mesa redonda" [runder Tisch] ein Interview von Arleen Rodríguez mit Anwalt Leonard Weinglass, dem Anwalt von Antonio Guerrero und Mitglied des Verteidiger-Teams, ausgestrahlt. Eine spanische Übersetzung folgt. (Weinglass' Antworten waren im Original in Englisch und wurden ins Spanische übersetzt) [Dies ist die Übersetzung der englischen Version, Anm. d. Ü.]

Arleen Rodríguez: Weinglass, helfen Sie uns zu verstehen. Geben Sie uns eine Zusammenfassung der 99 Seiten langen Entscheidung des Berufungsgerichts von Atlanta.

Leonard Weinglass: Was es bedeutet ist, dass zwei lebenslange Strafen, die von Ramón und Antonio, aufgehoben wurden, und es gibt ein Programm für die Neufestlegung in Miami vor Richterin Lenard. Die Strafe von Fernando soll reduziert werden.

AR: Aber Ramón und Antonio haben andere Anklagen als Fernando. Was bedeutet es, dass die Drei nach Miami zurück gebracht werden, und was können wir erwarten?

LW: Als die Cuban Five 1998 verhaftet wurden, gab das Pentagon und das Justizministerium Erklärungen ab, wonach die nationale Sicherheit der Vereinigten Staaten nicht betroffen gewesen sei. Jetzt, nach zehn Jahren Gefängnis, haben wir eine Erklärung eines hochrangigen Gerichts, wonach es keine Spionage gegeben habe und, dass keine streng geheimen Informationen gesammelt und weitergegeben worden seien. Das war das Ergebnis des Gerichts, aber trotzdem schickten sie die Fälle für eine Neufestlegung zurück, und wir sind nicht sicher, wie die neuen Strafen ausfallen werden, aber es wird in diesem Fall nicht lebenslänglich sein, und sie könnten sogar zurück nach Hause gehen.

AR: Warum wird Gerardo nicht in die Revision eingeschlossen?

LW: Alle Anwälte stimmen darin überein, dass Gerados Fall schwächer war, und niedergeschlagen werden könnte. Trotzdem, obwohl der Fall vom rechtlichen Standpunkt her schwächer ist, ist er wegen des politischen Klimas in Miami politisch der schwierigste. Das Gericht hatte nicht den Mut, ein Urteil wegen Verschwörung, Mord begehen zu wollen, fallenzulassen, wenn die Opfer vier Einwohner Miamis sind.

AR: Ist die Tatsache, dass das Berufungsgericht von Atlanta entschieden hat, den Fall von Ramón, Fernando und Antonio nach Miami rückzuverweisen, nicht ein Beweis für mangelhafte Handlungsweise? Ist es nicht absurd, den Fall an die selbe Richterin rückzuverweisen, die die harten Strafen erlassen hat?

LW: Das ist bedauerlich. In der 99 Seiten langen Entscheidung kommen sie zu dem Schluss, dass Joan Lenard Fehler begangen hat bei der Bestrafung Fernandos, dass sie Fehler begangen hat bei der Bestrafung Antonios, dass sie Fehler begangen hat bei der Bestrafung Ramóns, bei den Anweisungen an die Jury über Gerardo und nach Auffassung von zweien der Richter beging sie Fehler, als sie den Wechsel des Gerichtsortes ablehnte. Trotz dieser sechs oder sieben gravierenden Fehler verwies das Gericht den Fall an Richterin Lenard.

AR: Welche rechtlichen Möglichkeiten bleiben?

Ja, wir haben immer noch verfügbare Optionen. Als erstes können wir sofort am 24. Juni die Richter bitten, ihre Entscheidung, die auf Fehlern beruht, die sie bei ihrer Anordnung begangen haben, zu überdenken, und wir werden das tun.
Wenn sie diese Schlussfolgerung nicht neu erörtern, haben wir das Recht, vor den Supreme Court der Vereinigten Staaten zu gehen, damit dieser alle oder einige Aspekte, die wir vorgetragen haben, überdenkt, einschließlich dem des Ortswechsels, des Fehlverhaltens der Staatsanwaltschaft, des Mangels an Beweisen im Fall von Gerardo und andere Dinge, über die dieses Gericht entschieden hat, einschließlich einer geheimen Absprache zwischen der Richterin und der Staatsanwaltschaft gegen die Cuban Five und auch, dass geheime Beweismittel zurückgehalten wurden, die der Verteidigung hätten übergeben werden können.

AR: Diese Anordnung kommt zu einer Zeit, in der das Volk der Vereinigten Staaten von einem Präsidentschaftswahlkampf überschwemmt wird und vielleicht nicht auf andere Dinge achtet, wie den Fall der Cuban Five und andere, die Möglichkeit einer Begnadigung von Luis Posada Carriles, der bereits frei durch die Straßen Miamis spaziert. Ich wüsste gern, ob das Verteidiger-Team die Doppelmoral der US-Regierung hinsichtlich des Umgangs mit dem Terrorismus in Betracht gezogen hat, die in der Handhabung des Falles der Cuban Five und der Freilassung eines bekennenden Terroristen offensichtlich wird.

LW: In Wahrheit steht uns dieser Widerspruch, der bei den von Ihnen erwähnten Tatsachen ganz klar wird, für unsere Texte im juristischen Fall nicht zur Verfügung. Trotzdem hat das erste Gremium, vor dem wir in Berufung gingen, eine besondere Fußnote hinzugefügt, die sich auf Carriles bezieht, und in der er als Terrorist bezeichnet wird. Leider gibt es in dieser 99 Seiten langen Entscheidung keinen solchen Hinweis.

AR: Die Entscheidung kam am 4. Juni, Gerardos Geburtstag. Die Tatsache, dass das Berufungsgericht die Strafe für eine der schwächsten Anklagen des Falles, die der Verschwörung, Mord begehen zu wollen, und allgemein die Anklagen gegen Gerardo aufrecht erhält, erscheint als bewusste Grausamkeit gegen diesen jungen Anti-Terror-Kämpfer. Wie sehen Sie das?

LW: vielleicht war das kein Zufall. Man betrachtet es als unsensiblen Vorsatz gegen einen Mann, der ehrenvoll seinem Land diente. Trotzdem, wenn Sie die gesamte Entscheidung lesen, insbesondere die ersten vierzig Seiten, wird es uns Anwälten sonnenklar, dass es in der Schreibweise ideologische Vorurteile gibt. Und die Tatsache, dass sie die Entscheidung an Gerardos Geburtstag veröffentlichten, kann man, wie sie vermuten, als babsichtigt betrachten.

AR.: Welche Gründe könnte uns ein Jurist wie Sie dafür angeben, weiter für möglich halten zu können, dass die Gerechtigkeit innerhalb des U.S.-Justizsystems im Falle der Cuban Five triumphieren wird?

LW: Leider gehört der Fall zu den Situationen, von denen ich glaube, dass die U.S.-Regierung sie nutzt, um die Justiz dazu benutzen, außenpolitische Ziele zu erreichen. Das ist der Unterschied zwischen dem Fall von Posada Carriles und diesem Fall.
Historisch gesehen, wenn so etwas passiert und ein politisches Vorurteil aufgedeckt wird, dann fühlt sich das U.S.-amerikanische Volk wegen seiner Gesetze und seines Vertrauens, das es in sein juristisches System, in die Gerichte setzt, in großer Verlegenheit.

AR.: Wie würden Sie das Urteil vom 4. Juni in einem Satz zusammenfassen?

LW.: Gerardo hätte von allen Anklagen befreit werden müssen und der Rest der lebenslänglichen Strafen hätte zu aller mindest annulliert werden müssen.
Daher haben wir momentan zu einem kleinen Teil gewonnen, aber die Angelegenheit des Gerichtsortes ist noch akut, und wir werden sie dem Obersten Gericht noch einmal vortragen, und glücklicherweise beginnen wir mit der Aufzeichnung der rechtlichen Vorlage dafür, damit die Cuban Five nach Hause zurück kehren können.
Wir sind bereit, den Kampf fortzusetzen und mit Glück werden wir es durchsetzen, wie wir es zuvor getan haben, und wie wir es in Zukunft tun werden und tun müssen.
Wir haben die Annullierung von lebenslänglichen Strafurteilen errungen, und das ist ein bedeutender Sieg, aber wir sind sehr enttäuscht, dass wir in dem schwächsten Fall der Staatsanwaltschaft nicht gewonnen haben, und wir hätten ihn gewinnen müssen.

AR.: Geht es um Anklage drei?

LW.: Ja, um Anklage drei.
Jeder Anwalt, der die Anklage studiert, einschließlich der Staatsanwälte, ist zu dem Schluss gekommen, dass ein Strafurteil nach dem vorliegenden Beweismaterial nicht hätte erlassen werden dürfen. Ein Mitglied des Richtergremiums schrieb eine 16-seitige Urteilsbegründung und eine sehr eindeutige, eine sehr ausdrucksstarke, die besagte, dass Gerardo gegenüber diesen Anklagen unschuldig sei. Das ist eine starke Aussage und eine sehr ungewöhnliche für eine 85-jährige Richterin, die über fast ein Viertel Jahrhundert Richterin am Bundesberufungsgericht ist.
Das war eine historische richterliche Leistung für die Anklage auf Verschwörung, Mord begehen zu wollen. Sie ist direkt dem Obersten Gerichtshof unterstellt, und sie ist eine der anerkanntesten Führungspersönlichkeiten des U.S.-Justizsystems.

AR.: Sie sprechen von Richterin Kravitch.

LW: Ja, von Kravitch.
Sie wurde von [dem früheren U.S.-Präsidenten] Carter ernannt, einem Mann, der mehr an Menschenrechte glaubt, als die meisten anderen politischen Führer. Er wählte sie aus einem sehr kleinen Gerichtshof in Georgia aus, an dem sie Recht sprach. Sie war dort, obwohl sie ihr Studium an einer der angesehensten Jura-Fakultäten der Vereinigten Staaten als beste ihres Jahrgangs abgeschlossen hatte. Aber sie hatte in keiner Anwaltskanzlei gearbeitet, weil sie eine Frau war. Daher kennt sie offenkundig den Preis, den Leute bezahlen müssen, wenn sie Opfer von Vorurteilen sind, und ich glaube, dass sie dies in ihre Arbeit als Richterin einfließen lässt.

AR: Danke für Ihr Gespräch mit unserem runden Tisch.

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db)

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