CounterPunch, 19. November 2009

Der Gipfel der Heuchelei

Dissidenten machen Lärm - ups, Nachrichten

Von Saul Landau

Die Heuchelei der U.S.-Regierung hat in den letzten Jahrzehnten so zugenommen, dass sie nur noch Gähnen und abwesende Blicke hervorruft. Die Senatoren beklagen die Einmischung der Regierung ins Gesundheitssystem während sie gleichzeitig auf höchster Regierungsebene an der von ihnen selbst auf Kosten des Steuerzahlers geschaffenen Krankenversicherung teilhaben. Die Außenministerin Clinton forderte die pakistanische Führung dazu auf, die Terroristen von deren Straßen zu entfernen, während die selbsternannten Anti-Castro-Terroristen auf Miamis Hauptstraßen ihre Paraden abhalten - natürlich als Freiheitskämpfer.
Die Doppelzüngigkeit deckt sich mit der Dummheit der Politik. In Afghanistan (es kostet pro Soldat und Jahr eine Million Dollar, um Hamid Karzai im Präsidentengeschäft zu halten) verfolgen U.S.- und NATO-Truppen eine wage Anti-Terror-Mission, bei der sie unermesslich viele Tote und ebensolche Zerstörung verursacht haben - mit wenigen Ergebnissen oder gar keinen. "Schickt mehr Truppen, die für die Karzai-Regierung kämpfen," schreien John McCain und seinesgleichen, während Karzai um den Eintrag ins Guinness-Buch der Rekorde in Sachen Korruption kämpft. Er behält seine Legitimität von denen, die unmittelbar von seinem Diebstahl profitieren - und von der U.S.-Regierung.
Heuchelei, die sich auf höchster Ebene wiederholt - Göbbels nannte es die "große Lüge" -, sorgt dafür, dass Journalisten erlahmen und sich in reine Stenografen verwandeln, die nicht mehr versuchen, die Unehrlichkeit offizieller Reden aufzudecken.
Nehmen Sie die Presseberichterstattung über zwei mutmaßliche Menschenrechtsfälle. Im vergangenen Jahr verhaftete die religiös motivierte saudiarabische Polizei eine amerikanische Frau "wegen des Sitzens mit einem männlichen Kollegen vor einem "Starbuck" - Café in Riad." Die Frau wurde geschlagen, "einer Leibesvisitation unterzogen, bedroht und dazu gezwungen, falsche Geständnisse zu unterschreiben." (Independent, 8. Februar 2008)
Das Außenministerium ignorierte diese und ähnliche Geschichten als interne saudiarabische Angelegenheit. Aber das State Department kam augenblicklich in die Hufe, als es um seine kubanische Lieblingsbloggerin Yoani Sanchez ging.
Auf dem Weg zu einer Demonstration in Havanna "gegen Gewalt", so sagte Yoani gegenüber Reuters in Havanna, seien sie und zwei ihrer Begleiter von drei nicht uniformierten Männern geschnappt und in ein Auto geworfen worden. Sie sagte nichts darüber, "geschlagen" worden zu sein. Reynaldo Escobar, Sanchez' Ehemann "erzählte dem El Nuevo Herald, sie gehe mit einer Krücke und nehme Medikamente gegen Rückenschmerzen, weil sie von drei Männern in Zivil mit dem Kopf voran in ein Auto geworfen und in den Rücken geschlagen worden sei, die sie 20 Minuten lang festgehalten hätten."
Kurz nach dem Reuters-Interview erzählte Yoani einem AP-Mann, die Männer hätten sie so professionell geschlagen, dass sie keine einzige Spur auf ihrer Haut hinterlassen hätten. "Kein Blut, aber grün und blaue Flecken, ausgerissene Haare, Schläge auf den Kopf, in die Nieren, auf Knie und Brust," sagte dagegen Yoanis Ehemann gegenüber El Nuevo Herald. "Alles in allem: professionell ausgeführte Gewalt." Yoani veröffentlichte in ihrem Blog keine Fotos über die "professionellen Schläge", eigenartig für jemanden, dessen Blog eine Menge Fotos zeigt. (6. November, 2009)
Im Unterschied zu der Reaktion auf die Misshandlung einer Frau von Saudis (unseren Verbündeten) "verurteilte" die U.S.-Regierung "den Überfall" auf Yoani "scharf". Das Außenministerium "drückte gegenüber der kubanischen Regierung unsere tiefe Besorgnis aus ... wir werden die Sache durch Ermittlungen verfolgen ... hinsichtlich ihres persönlichen Wohlbefindens und Zugangs zu medizinischer Versorgung." (Miami Herald, 14. November)
Weder die Medien noch die US-Regierung erklärten, warum Kubaner eine Kundgebung gegen die Gewalt im Ausland abhalten sollten. Nichtregierungsquellen auf der Insel können sich nicht vorstellen, worum es bei der Demonstration ging. Einige Demonstranten trugen allerdings "Sumate"-Zeichen. (Der Name der venezolanischen Gruppe, die die Anti-Chavez-Kampagne 2004 anführte und der von der bolivianischen Opposition gegen Morales übernommen wurde),
Der Zwischenfall mit Yoani erregte neue Aufmerksamkeit für die "mutige Journalistin", besonders in Miami. Ihre Blogs berichten vom grundsätzlichen Gejammer auf Havannas Straßen, aber bieten kein Rezept dafür an, wie Ineffizienz oder ungerechte Behandlung vermieden werden könnten, auch macht sie keinen Versuch, die Gründe für die Fehlfunktionen, die das tägliche Leben in Kuba belasten, zu verstehen und schon gar nicht zu analysieren. Sie hat das Internet-Gejammer perfektioniert, fast zu einer Kunstform entwickelt.
Anti-Castro-Kubaner und Journalisten in der gesamten westlichen Presse bewundern sie und schmücken sie mit Auszeichnungen und Preisen (John Moors Cabot in New York und Ortega y Gassett in Spanien). Andere "Dissidenten" sind nicht in ihrem Fanclub. Martha Beatrix Roque, eine nicht so cyber-gewiefte Dissidentin, jetzt an zweiter Stelle der weiblichen "Dissidenten", erzählte dem Miami Herald, ihre Diabetes bereite ihr schwere Probleme. Nach zwei Wochen Hungerstreik hat sie zum Glück nicht kritisch an Gewicht verloren.
Roque und Sanchez konkurrieren um Schlagzeilen in Miamis Zeitungen, Rundfunk und Fernsehen. Die Fraktion von Martha Beatrix hat Yoani kritisiert, die in Washington mehr Aufmerksamkeit genießt, da wo das Geld herkommt. Washingtons Politik, immun gegen Tatsachen und Folgerichtigkeit, hat das Leiden verursacht, indem Güter und Kredite verweigert werden, verurteilt trotzdem Kubas Regierung und akzeptiert Yoanis widersprüchliche Forderungen und fordert moralisierend von Kuba, die Menschenrechte zu respektieren - während sie über das Schicksal von Gefangenen debattiert (einige davon ohne Anklage), die sie auf der Basis von Guantánamo auf kubanischem Territorium festhält. Schon wieder die langweilige alte Heuchelei.

Saul Landau ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Politikstudien. Sein Buch "A Bush and Botox World" [Eine Welt von Bush und Botox] wurde von Counterpunch/AK herausgegeben. Seine Filme können bei roundworldproductions@gmail.com als DVD bestellt werden.

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb, db)

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