Fidels Erbe für die Welt in Theorie und Praxis

Von Arnold August

CounterPunch, 7. Dezember 2016

Seit seinen High School-Tagen in den 1950ern machte sich Fidel Castro mit den Schriften und Aktivitäten José Martís vertraut, einem der kubanischen Kämpfer für soziale Gerechtigkeit und die Unabhängigkeit von Spanien im 19. Jahrhundert. Fidel las alle 28 Bände Martís. Er studierte auch die Werke und Aktivitäten von Marx, Engels und Lenin. Er untersuchte die bolschewistische Revolution und empfand tiefen Respekt vor ihr. Während dieser frühen Periode seiner bemerkenswerten autodidaktischen Entwicklung lebte er nicht nur in Kuba, sondern war auch in anderen lateinamerikanischen Ländern wie in der Dominikanischen Republik. Er nahm die revolutionären Traditionen in sich auf, und das Gedankengut aus der gesamten Region beeinflussten seine Geisteshaltung. Als sich schnell entwickelnder Revolutionär erfüllte es sowohl sein Denken als auch seinen politischen Geist, der bereit ist, sein Leben für die Sache der Gedemütigten hinzugeben. Dieser Wissensdurst, sich mit den verschiedenen Strömungen Kubas und des internationalen politischen Gedankenguts und dessen Aktionen vertraut machen zu wollen, begleitete ihn sein ganzes langes Leben.

Fidels Erbe liegt unter vielen anderen Merkmalen in seiner einzigartigen Fähigkeit, Theorie und Praxis verbinden zu können, begründet. Er praktizierte sie während seiner historisch beispiellosen langen politischen Reise wie kein anderer Revolutionär des 20. und frühen 21. Jahrhunderts.
Gabriel Garcìa Márquez, eine Ikone des lateinamerikanischen Denkens, der Fidel persönlich sehr gut kannte, schrieb, dass Fidel der "Antidogmatiker par Excellence" sei (in: "Ein persönliches Portrait von Fidel Castro", Fidel: My Early Years, Ocean Press, Melbourn 1998, Seite 17). Es ist der Sache wert innezuhalten und diese Wertschätzung des Ausmaßes von Fidels Antidogmatismus zu überdenken.
Che Guevara lebte und kämpfte mit Fidel Castro inmitten der Sierra Maestra und nach dem Triumph 1959. In Bolivien, am 26. Juli 1967, dem Jahrestag des Angriffs auf die Moncada, schrieb Che in sein bolivianisches Tagebuch über die "Bedeutung des 26. Julis, einer Rebellion gegen Oligarchen und gegen revolutionäre Dogmen" (Ernesto Che Guevara, The Bolivarian Diary of Ernesto Che Guevara, Pathfinder Press, Montreal 1994, Seite 239). Ja, Sie lesen recht: "revolutionäre Dogmen". Fidel und die Bewegung, die er anführte, war zu der Zeit, als sie den Weg eines bewaffneten Kampfes mit Angriff auf zwei Batista-Kasernen beschritten, einschließlich der Moncada-Kaserne, gezwungen, gegen den Strom der herrschenden Linken zu schwimmen. Daher war diese Rebellion auch eine Revolte gegen die ältere Linke, die nicht in der Lage war, den historischen Moment zu begreifen. Der Sturm auf die Moncada war vom Standpunkt der Linken "politisch inkorrekt." Einige der Linken sowohl in Kuba als auch die der internationalen verleumdeten Castro wegen seiner bahnbrechenden Moncada-Rebellion als "kleinkarierten bourgoisen Putschisten". Angeblich war die Rebellion nach den Befolgern marxistischer "Dienstvorschriften", die in ihnen eher ein unumstößliches Dogma als einen Leitfaden zum Handeln sahen, nicht zu rechtfertigen. Fidel stellte revolutionäres Denken und Handeln auf den Kopf. Die Strategien und Bedingungen der Bolschewisten waren nicht die selben wie die im Kuba der 1950er, die dann 1959 zum Triumph der Revolution führten. Nur eine Revolution, die vom Dogmatismus gereinigt ist wie die kubanische, kann durch eine sich im Fluss befindliche Welt gesteuert werden.
In den 1950ern versammelte er den sich noch sträubenden linken Trend in Kuba hinter die Sache. Das tat er über seine Aktionen in der Bewegung 26. Juli, in dem Geist der Selbstaufopferung und des neuen politischen Gedankenguts. Letzteres manifestierte sich in seiner Verteidigungsrede vor Gericht, "Die Geschichte wird mich freisprechen", das auf seine Gefangennahme nach dem Fehlschlag vom Sturm auf die Moncada folgte. All diese Faktoren zusammen genommen erschütterten Kuba in seinen Grundfesten, ein Ergebnis, das nur ein selbstständiger Denker und dessen Mitarbeiter hervorbringen konnten.
Der Rest ist Geschichte - oder? Nein, wie oft schwamm Fidel Castro gegen den Strom und führte Kuba aus Tod und Desaster? Hier nur ein Beispiel: Er weigerte sich 1991, mit Michael Gorbatschow den Weg der Reformen und der Kapitulation gegenüber den USA zu gehen. Stattdessen sah er tatsächlich den Zerfall der UdSSR voraus, zwei Jahre, bevor er eintraf. Wo ist dieser dafür erforderliche Widerstand auf Leben und Tod und mit Todesverachtung je in irgendeinem Werk von Marx oder Lenin oder José Martí ausdrücklich erwähnt? Diese politischen Gestalten strahlen zwar alle die Prinzipien, das Denken und die selbstaufopfernde Hingabe an die Sache der Menschen aus, die mit solchen unvorhersehbaren Herausforderungen konfrontiert werden, dennoch, auch mit dem Erbe aus dem 19. und den Anfängen des 20. Jahrhunderts, mussten die kubanischen Revolutionäre in den bedrohlichen, stürmischen und unerforschten Gewässern Ende der 1980er und 1991 ihren Weg nach vorne selber finden. Die USA saßen in ihren Startlöchern, leckten sich die Lippen bei der Aussicht, dass Kuba einknicken und sich anschließen würde. Wo wäre Kuba jetzt, hätte es sich zu der Zeit nicht besonnen, indem es weiter auf seine antidogmatische Tradition vertraute und sich gestattet hätte, sich von neuen Ideen und Orientierungen leiten zu lassen?
Daher liegt Fidels Erbe in seiner Fähigkeit begründet, Theorie und Praxis zu verknüpfen oder Praxis und Theorie, nämlich durch konkrete Analyse der realen Bedingungen. "Analyse" setzt eine theoretische Ansicht voraus, das ist wahr, diese Perspektive angewandt auf "konkrete Bedingungen" bedeutet jedoch, auf die reale Welt zu achten und die Gelegenheit auf Basis der Bedürfnisse und Hoffnungen der großen Mehrheit der kubanischen Bevölkerung zu jeder Zeit beim Schopfe zu fassen. Die Fähigkeit, die beiden, Theorie und Praxis, in sich und dies beständig zu vereinen, das macht einen Revolutionär wie Fidel aus.
Manche mögen sagen, wenn man von dieser beispielhaften Führung Fidels nach Theorie und Praxis spricht, fällt man der Individualisierung Fidels zum Opfer und personalisiert die Kubanische Revolution zum Nachteil der Rolle des Volkes und Fidels engster Mitarbeiter. Nichts ist jedoch weiter von der Wahrheit entfernt als das. Wo findet man den Erfolg konkreter Analysen und konkreter Bedingungen, wenn nicht im Volk? Konkrete Bedingungen korrespondieren mit den Demütigungen der Menschen in ihrer fortwährenden Bewegung. Sowohl Theorie als auch Praxis sind untrennbar mit Fidel verbunden.

Zu dieser Lektion der Methodik gehören zu seinem Erbe tatsächlich konkrete Manifestationen, wie sie in seinen Äußerungen zu unzähligen heimischen und internationalen Angelegenheiten zu finden sind. Zum Beispiel sagte er 2001, dass "Revolution bedeutet, einen Sinn für Geschichte zu haben, sie ändert alles, was geändert werden muss." Dies versorgt Kubaner täglich mit einer politischen Orientierung. So sagte er 2005 im Kontext mit heimischen Problemen: "Dieses Land kann sich selbst zerstören, diese Revolution kann sich selbst zerstören, aber sie [die ausländischen Mächte] können uns nie zerstören, wir können uns selbst zerstören, und dann wäre es unsere eigene Schuld." Zu der komplexen Sache der Kuba-US-Beziehungen seit dem 17. Dezember 2014 äußerte Fidel zu verschiedenen Anlässen seine Meinung. Sie sind nicht nur sachdienlich, sondern auch für die Führung von Kubas heutiger und zukünftiger Politik notwendig, sowie sie für das Bewusstsein progressiver Menschen in der ganzen Welt hinsichtlich dieser aggressiven Voreingenommenheit nützlich sind.
Man sollte die Rolle des Individuums in der Geschichte nicht überschätzen, aber es wäre genau so irreführend, sie zu unterschätzen. Zum Beispiel war es ein Naturforscher Charles Darwin, der die Theorien der Evolution und natürlichen Auslese postulierte. Er durchbrach das festgefahrene Denken durch das Studium der bereits bestehenden Werke anderer Wissenschaftler, mit denen er sich austauschte, vor allem aber mit der eigenen Erforschung der Natur. Ähnlich verfolgte Marx diesen Weg für seine Entdeckungen im sozialen und politischen Denken. Während ich Fidel nicht mit Darwin oder Marx vergleichen möchte, er wäre selbst der Letzte, einem ungerechtfertigten Vergleich zuzustimmen, passt dennoch das Prinzip der richtungsweisenden Rolle des Individuums bei der Öffnung für bisher unerforschte Wege, indem man Denken und Bedingungen miteinander verbindet, auf Fidel. Er ist ein herausragender Archetypus des 20. Jahrhunderts und sogar bis hinein ins 21. Jahrhundert, da sein Denken und Beispiel für mindestens noch einige Jahrzehnte in diesem Jahrhundert anwendbar sein wird.
Fidel war eine politische Gestalt, die selbständig dachte. Sein Vorgehen basierte zuallererst auf revolutionären Prinzipien. Er war ein Antidogmatiker par Excellence, in dem sich Theorie und die praktische Bewegung für die Sache Kubas so eng miteinander verflochten, dass beide nicht mehr von einander zu unterscheiden waren. Er kam auf diesem Weg weiter als jeder andere von den 1940ern angefangen bis zum 11. Oktober 2016, dem letzten Mal, an dem seine Worte veröffentlicht wurden.
Obgleich Fidel schließlich am 25. November 2016 das letzte Wort hatte, als Kuba - ein kleines blockiertes Dritte-Welt-Land, das erst vor nur 56 Jahren die Ketten von 500 Jahren Kolonialismus und Imperialismus sprengte, die Hauptbühne der Welt einnahm, was niemanden, weder Freund noch Feind, gegenüber diesem Giganten von Theorie und Praxis gleichgültig sein ließ. In dem langen Leben und Werk von Fidel Castro gab es nie einen Bruch zwischen Denken und Praxis, sie waren eins. Dieses Erbe ist universell anwendbar. Es ist jetzt Bestandteil des Weges der Progressiven der Menschheit, der links orientierten Menschen und Revolutionäre der kommenden Generation.

Arnold August, kanadischer Journalist und Dozent, ist Autor von "Democracy in Cuba and the 1997-98 Elections" und des neueren Werkes"Cuba and Its Neighbours: Democracy in Motion".
Die in Betracht gezogenen Nachbarn Kubas sind die USA, Venezuela, Bolivien und Ecuador. , Siehe:
Arnold hat sich u.a. auch jahrelang für die Freiheit der Cuban Five eingesetzt.

Deutsch: Josie Michel-Brüning

(Quelle: CounterPunch vom 7. Dezember 2016)

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