"Kubanische Demokratie" versus "amerikanische Demokratie"

Teil I eines Interviews mit Arnold August, dem Autor von "Cuba and Its Neighbours: Democracy in Motion" [Kuba und seine Nachbarn - Demokratie in Bewegung]

Von Arnold August und Julie Lévesque

Global Research, 16. Mai 2013

Arnold August ist ein Autor der politischen Wissenschaften, Journalist und Dozent in Montreal, Kanada (Quebec). Er ist der Autor von "Democracy in Cuba and the 1997-98 Elections" (Editorial José Martí) [Demokratie in Kuba und die Wahlen von 1997-98, (José Martí-Verlag)] und hat auch ein Kapitel zu dem Band, "Cuban Socialism in a New Century: Adversity, Survival and Renewal (University Press of Florida) [Kubanischer Sozialismus in einem neuen Jahrhundert - Not, Überleben und Erneuerung] unter dem Titel, "Socialism and Elections" [Sozialismus und Wahlen], beigetragen.

Mehr Information zu seinem neuen Buch.

JL: Erzählen Sie uns von Ihrem Buch, "Cuba and Its Neighbours: Democracy in Motion", warum haben Sie dieses Buch geschrieben und wie sind Sie es angegangen?

AA: Also, ich denke, viele Menschen stimmen mit mir darin überein, dass es, wenn es um internationale Politik geht und zwar auf Druck der Länder des Nordens, insbesondere dem der USA hinsichtlich der Länder des Südens, im Allgemeinen - Asien, Afrika und Lateinamerika - um kaum ein anderes Thema geht als um das der Demokratie. Es ist insbesondere seit Ende der 1980er bzw. Anfang der 1990er Jahre so, seit dem Auseinanderbrechen des Sowjet-Blocks, dass die Sache der Demokratie oder vielmehr der Vorwand der Demokratie von den USA und Europa zunehmend zum Anlass der Intervention in die internen Angelegenheiten anderer Länder genommen wird. Gleichzeitig aber, so seltsam das erscheinen mag, gibt es sehr wenige Bücher, die auf die Demokratie als solche Bezug nehmen. Ich schätze, dass nicht viele Menschen gerade diesen Gegenstand ansprechen wollen, weil es ein sehr aufgeladener Begriff ist, den man nicht leicht behandeln kann, aber ich dachte immer, es sei notwendig. Tatsächlich ist dies mein zweites Buch zur Sache der Demokratie, das erste, 1999 geschriebene, handelte speziell von Demokratie und den Wahlen in Kuba.

JL: Ich schätze, eine Menge Leute wären überrascht zu hören, dass es in Kuba Demokratie gibt. Welche Art von Demokratie ist das?

AA: In Kanada und insbesondere den USA, halten sie die ganze Sache von Demokratie für eine in Kuba völlig fremde Erfahrung und natürlich gilt diese Einstellung jetzt auch gegenüber anderen Ländern wie Venezuela. Ich behandele zwar das Thema Demokratie, aber, wie Sie bemerken können, lautet der Untertitel meines Buches "Demokratie in Bewegung". Daher behandele ich nicht nur Demokratie als solche. Ich versuche das Konzept von "Demokratie in Bewegung" auszuführen, dass heißt die Demokratisierung als einen Prozess darzustellen, der nie endet und im Zentrum dieses ganzen Konzepts versuche ich, die Rolle der partizipativen Demokratie auszuführen, das heißt, eine Demokratie darzustellen, in der die Menschen auf der Basis des täglichen Lebens bei der effektiven Umsetzung der eigenen politischen Macht eine Schlüsselrolle spielen.

JL: Denken Sie, dass die Bevölkerung in Kuba mehr an der Entscheidungsfindung partizipiert als zum Beispiel die in Kanada oder in den USA?

AA: Also, ich denke, man müsste das jetzige Kuba mit dessen Situation von vor 1959, vor der Revolution, vergleichen. Wir können es nicht einmal miteinander vergleichen, es ist so offensichtlich, dass es vor 1959 eine US-kontrollierte, eine von den USA aus gelenkte Diktatur, die Batista-Diktatur, gegeben hat, und die Bevölkerung war von der Macht völlig ausgeschlossen. Tatsächlich kandidierte Fidel Castro damals, 1952, Anfang der 1950er Jahre, für den Senat, und es wurde offenbar, dass er und seine Partei diese Wahlen gewinnen würden.
Das von den USA unterstützte Batista-Regime brach die Wahlen ab und organisierte einen Staatsstreich. Auf diese Weise bekommt man einen Eindruck davon, welcher Art die Partizipation von vor 1959 dort war. Seit 1959 hat sie sich natürlich entwickelt. 1959 war es das erste Mal in der Geschichte Kubas, dass das Volk politische Macht gewann. Ich sage nicht, dass es perfekt war. Es war damals nicht perfekt, und das ist es bis heute nicht. Doch die Hauptansicht von der Revolution 1959 ist die, dass die politische Macht zum ersten Mal in den Händen des Volkes lag. Der damalige Begriff "die Souveränität des Volkes" bekam für das Konzept seine eigentliche Bedeutung.
Jetzt können wir Parallelen zwischen der Kubanischen Revolution und der kürzlich stattgefundenen Rebellion in Ägypten ziehen. Ich würde es eine Revolution nennen, denn das ägyptische Volk revoltierte und siegte mit dem Sturz des von den USA gedeckten Diktators Mubarak.
Was ich dort interessant finde und mir die Augen im Hinblick auf die Bedürfnisse des Volkes noch weiter dafür geöffnet hat, Demokratie als einen fortwährenden Prozess auf eine partizipative Demokratie zu sehen, ist, dass die Menschen auf dem Tarhir-Platz den öffentlichen Raum besetzten und dass von dort aus Millionen von Menschen auf der Basis ihres täglichen Lebens ihre Entscheidungen darüber trafen, was zu tun sei, welches ihre Priorität sei und die war, Mubarak zu stürzen.
Sie wollten nichts Geringeres akzeptieren. Inzwischen entwickelte sich eine politische Macht, die darauf basierte, die Macht des US-gestützten Mubarak-Regimes durch eine andere ersetzen zu wollen. Und sie stürzten das Mubarak-Regime tatsächlich. Aber, was tat die Obama-Administration unmittelbar danach? Nachdem sie das Mubarak-Regime bis zur letzten Sekunde, natürlich scheinheiligerweise, unterstützt hatten? - Als er schließlich gestürzt worden war, versuchten die USA, unverzüglich das einzuführen, was ich in meiner Publikation die "US-zentrierte Auffassung von Politik" nenne, das ist die Mehrparteien-Demokratie.
Ich erinnere mich sehr deutlich, und es ist in meiner Publikation verzeichnet, dass, nach dem Sturz von Mubarak, während die Straßendemonstrationen auf dem Tarhir-Platz und den Plätzen in ganz Ägypten noch andauerten, Hillary Clinton im Namen von Obama sagte, das Volk müsse sich vom Protest hin zur Politik entwickeln. Das bedeutet aus US-Sicht, dass, wenn Menschen, die sich auf der Straße auf einer ganz anderen Grundlage organisieren, um auf irgend eine Weise politische Macht ergreifen zu können, die sich ganz anders orientiert, auch, wenn dies erst in einem embryonalen Stadium vor sich ging, dass das dann keine Politik ist. Die einzige Politik, die zählt, ist die der Wahlen. Dann organisierten die USA Wahlen in Ägypten.

JL: Weil sie auf diese Weise deren Resultat kontrollieren können?

AA: Genau, das ist es, was sie über Wahlen kontrollieren. Die USA konnten nicht den Tarhir-Platz kontrollieren, das Volk, das auf einem sehr niedrigen embryonalen Niveau die politische Macht an der Spitze anstrebte.

JL: Und gab es die Befürchtung, dass so etwas auch in den USA stattfinden könnte?

AA: Natürlich, denn der erste Domino-Effekt des Tarhir-Platzes trat in den Vereinigten Staaten selbst auf.
Die Obama-Administration musste Wahlen organisieren, und das Erste, was sie tat, war, die Nasseriten, die politische Partei zu eliminieren, die auf der Nasser-Tradition basiert, die im Allgemeinen progressiv und pro-sozialistisch eingestellt ist, die auf jeden Fall auf Unabhängigkeit von den USA bedacht ist. Die wurde, koste es, was es wolle, eliminiert - so, wie sie es immer machen - so, dass ihnen dann nur noch zwei Parteien blieben: die Moslem-Bruderschaft und die Partei der Ägyptischen Nationalbewegung. Beide sind pro-amerikanisch. Hier ist jetzt ein entscheidender Punkt, soweit es den Wahlprozess gegen den politischen Prozess einer demokratischen Bewegung betrifft: Nur 52 % der Bevölkerung stimmte tatsächlich in den Präsidentschaftswahlen zwischen den beiden Oppositionskandidaten ab. 52 %! Und es hatte einen Aufruf gegeben, sie [die Wahlen] zu boykottieren. Natürlich ist das in öffentlichen Kreisen nicht so bekannt. Man will das Thema sozusagen meiden.
Hier stehen nun zwei Dinge im Widerspruch zu einander. Auf der einen Seite gibt es die Menschen auf dem Tarhir-Platz und anderen Plätzen, die sich nach neuen Wegen zur Erlangung von politischer Macht außerhalb eines von den Vereinigten Staaten kontrollierten Mehrparteiensystems sehnen. Darum stimmten nur 52 % ab. Zur gleichen Zeit, während der 18-tägigen Revolution, die auf den Sturz von Mubarak zielte, wurden 850 Menschen getötet und 5.500 Menschen schwer verletzt. Nun frage ich Sie: Ist es nicht leichter, eine Wahlveranstaltung auszurichten, als auf der Straße für den Umsturz zu kämpfen, wobei man sein Leben verlieren oder schwer verletzt werden kann. Das geschieht nicht aus Apathie oder Mangel an Interesse. Es geht grundsätzlich um eine Ablehnung des Mehrparteiensystems, das sich in diesen Wahlen widerspiegelte, und daher geht sie immer noch weiter.
Ich verbrachte nahezu 24 Stunden während dieser 18 Tage mit der Beobachtung dieser Angelegenheit, und es erlaubte mir, die Sache der partizipativen Demokratie weiter zu verfolgen und wie [dagegen] Wahlen genutzt werden, um den Status quo zu legitimieren. Nun, und das ist es genau, was Obama tat, als die Moslem-Brüder die Wahlen gewannen. Er rief Morsi an und sagte laut der Mitschrift vom Weißen Haus: "Jetzt sind Sie ermächtigt." Sie haben das rechtmäßige Amt in Ägypten. So werden in diesen Ländern Wahlen, wenn von den USA kontrolliert, genutzt - um die Diktatur der alten Garde zu legitimieren.
Wir müssen gar nicht so weit gehen, nähern wir uns unserer Heimat: Was geschah in Quebec (Kanada) im vergangenen Frühjahr? Es waren buchstäblich Millionen von Menschen auf der Straße, Studenten und ältere Leute in ganz Quebec, und was sagte die Liberale Regierung dazu? "Also, wir sind gewählt worden." Natürlich stimmte nur 52 % der Bevölkerung ab, die sich auf zwei/drei Parteien verteilte. "Wir wurden gewählt." Sie meinen damit: "Wir sind die legitimen Repräsentanten des Volkes und können tun, was wir wollen. Wir haben das Mandat, alles tun zu können. Alles und jedes." Und so werden die Wahlen benutzt, ob in Ägypten, Quebec oder in anderen Ländern, um das Reglement der alten Garde zu legitimieren. Nun bin ich nicht gegen Wahlen. Ich bin nicht gegen Wahlen mit verschiedenen politischen Parteien, aber wir müssen genau hinsehen, wie sie stattfinden.

JL: Also sagen Sie im Grunde, dass Wahlen keine Garantie für Demokratie sind.

AA: Sie garantieren keine Demokratie, und in vielen Fällen, werden sie als Vorwand genutzt, jeden Kampf der Bevölkerung an der Basis, um die politische Macht in die eigenen Hände zu nehmen und ihre eigene Art von System entwickeln zu können zu beseitigen.

JL: Wie würden Sie die Ereignisse im Zusammenhang mit der Occupy-Bewegung in den USA beschreiben?

AA: Was daran interessant ist, ist, dass die USA nach den Ereignissen auf dem Tarhir-Platz sehr froh waren, die Volksbewegung zeitweilig, denn die Unruhen gingen noch weiter und wurden noch nicht aufgelöst, durch so genannte Wahlen zu ersetzen. Nun, da trat ironischer- oder paradoxerweise und mit Recht der Bumerang-Effekt oder der erste Domino-Effekt in Madison auf, in den USA selbst, innerhalb von sehr kurzer Zeit, nachdem Mubarak gestürzt worden war, und die Leute hatten Plakate, auf denen stand: "Der Gouverneur von Wisconsin ist unser Mubarak. Wir müssen gegen die Diktatur kämpfen."
Sie waren von der Besetzung der öffentlichen Plätze, der auf dem Tarhir-Platz in Ägypten, inspiriert worden, und sie taten im Capitol von Wisconsin das gleiche. Das Capitol-Gebäude war während etlicher Wochen besetzt, die Leute schliefen dort, trafen ihre eigenen Entscheidungen, sie hatten Manifeste dazu, dass sie eine neue politische Macht aufbauten, um die etablierten politischen Parteien herauszufordern. Unglücklicherweise wurde diese Bewegung fast unmittelbar in einen Bestandteil der Zwei-Parteien-Intrigen der Vereinigten Staaten umgewandelt, so waren die Gewerkschaften in einen "recall struggle" der Demokraten gegen den Gouverneur eingespannt worden [Es ging um die Anfechtung der vorherigen Wahl des republikanischen Gouverneurs, weil er die Tarfiverhandlungen für Staatsangestellte von der Agenda streichen wollte. 1]. Das ist [eigentlich] sehr gut, keiner kann etwas dagegen haben. Doch das Problem ist das Zwei-Parteien-System und die Meinung, dass die eine Partei nicht gut ist und wir sie loswerden müssen, um die andere Partei zum Zuge kommen zu lassen.

1] Vgl.: Wikipedia

Teil II des Interviews wird sich auf Augusts Kapitel über Obama und die Illusion des Wandels konzentrieren.

Deutsch: ¡Basta Ya! (jmb)

(Quelle: "Global Research" vom 16. Mai 2013

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