Das schlimmste, das jemandem im [US-]amerikanischen Rechtssystem passieren kann, ist es, allein und vergessen zu sein

Interview von Bernie Dwyer von Radio Havana Cuba mit Leonard Weinglass, dem Anwalt von Antonio Guerrero, am 5. Juli 2003

[Bernie Dwyer] Mr. Weinglass, Sie sind bekannt dafür, dass sie in Fällen mit großer öffentlicher Anteilnahme die Verteidigung übernehmen. Was reizte Sie an diesem Fall?

[Leonard Weinglass] Dieser Fall vereinigt in sich, wie wenige andere Fälle in den Vereinigten Staaten, in einem einzigen Fall, sowohl eine Angelegenheit von historischer internationaler Ungerechtigkeit, nämlich die US-Beziehungen zu Kuba, als auch eine inländische Ungerechtigkeit im Verfahren gegen die Fünf. In anderen Fällen, in die ich involviert war, wie dem "Pentagon Paper Trial", wurden dieselben Angelegenheiten behandelt, und auch im Verfahren der "Chicago Eight". ich habe mich immer für beide Seiten interessiert, sowohl für die inländische Seite der Ungerechtigkeit als auch die internationale. So weit ich weiß, ist dies zur Zeit der einzige wichtige Fall in den Vereinigten Staaten mit politischem Charakter, der beide Seiten in einem einzigen Fall vereinigt.

[BD] Wie wurden Sie zum ersten Mal an dem Fall beteiligt?

[LW] Antonio Guerreros Anwalt bekam gesundheitliche Beschwerden, die es ihm sehr schwer machten, den Fall weiter zu verfolgen. Er hatte die Situation mit Antonios Familie diskutiert und die Familie hat dann Freunde befragt, ob nicht ein anderer Anwalt verfügbar sei, der ihn ersetzen könnte. Ich traf mich mit der Familie und diskutierte die Situation sowohl mit ihr als auch mit seinem [Antonios] früheren Anwalt. Dann flog ich nach Colorado, um Antonio zu besuchen. Es war ungefähr ein Jahr vergangen, seit ich zugestimmt hatte, den Fall zu übernehmen.

[BD] Arbeiten Sie und die anderen Anwälte als Team oder verteidigt jeder seinen Klienten individuell?

[LW] Beides. Jeder verteidigt seinen Klienten individuell. Das verlangt das US-Gesetz. Aber wir arbeiten auch sehr eng als Team zusammen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Während der Berufungsverhandlung der Fünf wird uns das Gericht fünfzehn Minuten geben, um ihren Fall vorzutragen. Wir können uns die Zeit aufteilen wie wir wollen. Ein Anwalt könnte sechs Minuten sprechen. Ein anderer Anwalt könnte zwei Minuten sprechen. Wir haben entschieden, dass jeder drei Minuten bekommt. Wir arbeiten zusammen bei der Gestaltung dessen, wie wir den Fall vortragen; es ist eine sehr kooperative Arbeit, es ist Teamarbeit und wir arbeiten alle sehr eng zusammen. Bevor irgend ein Papier im Namen irgend eines [der Angeklagten] beim Gericht eingereicht wird, lassen wir es zirkulieren und machen Korrekturen und Vorschläge.

[BD] Während des ursprünglichen Verfahrens in Miami wurden die Fünf von Pflichtverteidigern vertreten. Sie kamen erst später dazu. Hat das irgend welche Schwierigkeiten bereitet?

[LW] Nein, es gab überhaupt keine Schwierigkeiten. Das mag gelegentlich vorkommen, aber in diesem speziellen Fall standen die vier Anwälte so hinter der Sache und Antonio, dass sie sich die Zeit nahmen, nicht nur um mich in dem Fall zu begrüßen, sondern mich auch damit vertraut zu machen. Es war ein sieben Monate andauerndes Verfahren mit hundertundsiebzehn Ordnern und Hunderten von Dokumenten; sie schickten mir ihre Kopien. Ich habe aus mehreren Anlässen Miami besucht. Ich saß mit ihnen in ihren Büros, wir tauschten unsere Meinungen aus und diskutierten die Dinge, die während des Verfahrens passiert waren, was mir half, meine Papiere für Antonio vorzubereiten.

[BD] Sie befinden sich jetzt in der Phase, in der alle Dokumente an den "11th Circuit court of appeals in Atlanta" übergeben worden sind. Allerdings wurde ein "amicus brief" von der Kubanischen Gesellschaft für Kriminologie zurückgewiesen. Was glauben Sie, wie das den Ausgang der Berufung beeinflussen könnte?

[LW] Wir waren davon ziemlich entmutigt. Der 11th Circuit ist ein Gericht mit zwölf Mitgliedern. Es gibt zwölf Richter. Dieser Antrag wurde von einem abgelehnt, von Richter Charles Wilson. Wir wissen nicht, ob er einer der drei Richter sein wird, die letztendlich über den Fall entscheiden. Aber ich muß betonen, dass, obwohl dies eine Enttäuschung war, wir einen anderen Antrag von der US National Lawyers Guild haben, der angenommen wurde.

Wir haben die Sache auch dadurch gestärkt, dass wir den Vorteil haben, einen neuen Beweis zu besitzen, den wir in dem neuen Antrag auf ein neues Verfahren entwickelten, gemeinsam mit dem Beweis, der in Bezug auf den Gerichtsort entwickelt wurde. Dadurch haben wir den erheblichen Vorteil, die Akte so erweitert zu haben, dass dem 11th Circuit eine vollständigere Geschichte des Gerichtsortes zur Verfügung steht, als es sonst möglich gewesen wäre. Also das war ein bedeutender Sieg.

Außerdem genehmigte mir das Gericht eine Verlängerung von 30 Tagen, die ich für Tony beantragt hatte, als sie ihn ins "Loch" gesteckt hatten. Als ich die Verlängerung beantragt hatte, erzählten mir Juristen, die sich im 11th Circuit auskennen, dass der 11th Circuit eine Woche, möglicherweise auch höchstens zwei Wochen geben würden, aber als sie den Antrag und die Bedingungen, in die man die Fünf gebracht hatte, gelesen hatten, gab uns der 11th Circuit die vollen dreißig Tage. So hatten wir einige Rückschläge und einige Entmutigungen, aber wir hatten auch einige Siege und einige ermutigende Anzeichen. Natürlich bleibt alles noch abzuwarten, aber ich glaube es wäre unfair, über die Situation des Gerichtes zu urteilen, aufgrund der Ablehnung des einen Antrags.

[BD] Der Fall scheint alle Zutaten für eine gute Zeitungsgeschichte zu haben. Trotzdem herrscht Ruhe in den US-Mainstream-Medien. Können Sie dazu etwas sagen?

[LW] Der Fall wurde während des Verfahrens nicht publiziert und das hätte er sicher sollen.

Es ist sehr schwer die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen, wenn du dich mit einer Berufung beschäftigst. Die Medien wollen nicht Hunderte von Dokumentseiten lesen. Es macht ihnen nichts aus, Verfahren beizuwohnen, wo sie sich hinsetzen und Zeugen bei ihren Aussagen beobachten können, aber Journalisten wollen sich nicht hinsetzen und die Anträge lesen.

Also ist es schwer, während der Berufung, Öffentlichkeit aufzubauen. Normalerweise berichten sie ganz kurz, wenn der Antrag auf Berufung eingereicht ist. Und dann kommentieren sie etwas ausführlicher, wenn du ein Ergebnis hast. Wir werden in diesem Fall vor Ablauf ungefähr eines Jahres von jetzt ab kein Ergebnis haben. Also ist es sehr schwer die Aufmerksamkeit der Medien zu erregen, wenn nichts von augenblicklichem Interesse passiert.

Aber darüber hinaus, glaube ich, dass der Fall so viel über die 44 Jahre Geschichte der Beziehungen enthält und dass er so wichtig ist inbezug auf sein Ergebnis und was es aussagt, nicht nur über die kubanisch-amerikanischen Beziehungen, sondern auch über das [US-]amerikanische Rechtssystem, dass ich ehrlich überrascht bin, dass auch während des Berufungsverfahrens, was normalerweise eine Ruhezeit ist, nicht mehr über den Fall geschrieben wurde. Ich kann das nicht anders erklären, als dass alle Medien unglücklicherweise mit der aggressiven Politik gegen den Irak und Liberia und ähnlichen Dingen beschäftigt sind, und so ist es sehr schwer, ihre Aufmerksamkeit für Kuba betreffende Angelegenheiten zu erregen.

[BD] Einer der schwersten Gesetzesverstöße gegen die Rechte der Gefangenen ist die Verweigerung des Besuchsrechtes, besonders im Fall von René González und Gerardo Hernández. Es ist ein Verbrechen, besonders weil ein fünfjähriges Kind betroffen ist. Haben Sie irgend eine Idee, wieso diese Situation fortgeführt werden darf?

[LW] Es ist schwer dieses, wie Sie sagen, Verbrechen zu erklären. Es ist Teil der besonderen Aufmerksamkeit, die die Regierung in Washington diesem Fall widmet; sie steckt die Fünf ohne Grund ins "Loch", sie verteilt sie ohne Grund auf Gefängnisse über die gesamten Vereinigten Staaten. Das ist überzogene Bestrafung, das geht über die Funktion der Strafe hinaus. Es grenzt an Folter. Es verstößt sowohl gegen Prinzipen in den Vereinigten Staaten als auch gegen internationale Prinzipien.

Letzte Woche hat der Oberste Gerichtshof der Vereinigten Staaten in einer neuen Entscheidung bezüglich der Rechte von Gefangenen ganz klar erklärt, dass die Verfassung der Vereinigten Staaten darauf ausgelegt ist, den Zusammenhalt der Familie und der Familienmitglieder zu pflegen. Damit ist das eine ins Mark gehende Verletzung eines unserer grundsätzlichsten Verfassungsprinzipien und natürlich auch eine Verletzung internationalen Rechts. Ich kann das nicht erklären. Niemand kann das rechtfertigen, außer damit, dass es ein wesentlicher Bestandteil der überzogenen Bestrafung ist, die die Fünf vom Tag ihrer Verhaftung an erhalten haben.

[BD] Gibt es irgend welche Mechanismen im US-Rechtssystem, die Sie und die anderen Anwälte einsetzen könnten, um ihr Recht auf Besuche der Familie zu garantieren?

[LW] Die Antwort ist ja. Der Rechtsbehelf ist verfügbar und einsetzbar. Nichtsdestotrotz, die Entscheidung, Olga und Adriana das Betreten der USA zu verweigern, ist im Wesentlichen eine Entscheidung auf der Ebene des State Departments und damit notwendigerweise politischer Natur. Diese Entscheidung sollte mit einem massiven Wutausbruch über solch eine inhumane Politik beantwortet werden. Wenn wir aber auf der anderen Seite vor Gericht gehen und diese Dinge vortragen, geraten wir in einen Sumpf von Regularien und kleinlichen bürokratischen Spielregeln, die dazu da sind, zu verhindern, dass jemand vor Gericht geht und die willkürlichen Entscheidungen des State Departments anklagt.

Und wenn wir vor Gericht gehen und verlieren die Sache durch ein Gerichtsurteil, dann werden diese Bürokraten das Urteil zu ihren Gunsten auslegen und ihren Fall nicht weiter verhandeln. Also müssen wir sehr vorsichtig sein. Wir wollen hier keine negative Entscheidung, die sie endgültig daran hindern würde, ihre Ehemänner oder ihren Vater zu besuchen.

Was wir wollen, und das werden wir ausreizen, ist, die Bürokraten im State Department und, wenn nötig, auch höher davon zu überzeugen, dass dies eine inhumane, ungerechte Politik ist, die die Bürokraten mit einem Federstrich rückgängig machen können. Uns scheint das vorläufig der beste Weg zu sein, den wir verfolgen können. Wenn es an einem gewissen Punkt klar wird, dass wir auf diese Weise kein gerechtes Ergebnis erzielen können, dann haben wir keine andere Alternative, als den Fall vor Gericht zu bringen.

[BD] In der Tat beschäftigen Sie sich mit zwei verschiedenen Fällen, der eine ist die Berufung der andere die Verweigerung der Besuche. Ist das die Situation?

[LW] Ja, im juristischen Sinne sind es zwei verschiedene Fälle. Wir bringen die Verweigerung der Besuche nicht vor den 11th Circuit. Das würde man vor ein anderes Gericht bringen, vermutlich in Washington DC, wo das Gerichtssystem nicht günstig ist und wo das State Department und das Justice Department jeden Vorteil bekommen, weil sie, wie ich bereits erwähnte, ein kompliziertes Regelwerk und Regularien haben, die darauf ausgelegt sind, die Anerkennung der Rechte von irgend jemanden, der außerhalb der Vereinigten Staaten lebt, zu verhindern.

Es ist ein sehr harter Kampf. Es gibt unter internationalem Gesetz kein Recht als solches, die Vereinigten Staaten zu betreten. Es wird unglücklicherweise als Privileg betrachtet und das drängt uns sofort in die Verteidigung. Natürlich würden wir klagen, und wir werden klagen, dass die Rechte der Kinder und die Rechte der Ehepartner derart fundamentale Rechte sind, dass sie die Einwanderungsbestimmungen aufheben, und ich glaube, wir hätten recht damit. Unglücklicherweise ist das Gesetz so, dass es in den Gerichten von Washington DC ein sehr schwieriger Prozeß wäre.

[BD] Die Solidaritätsgruppen zur Befreiung der Fünf auf der ganzen Welt ergreifen jede Gelegenheit, die sich bietet, um das Fehlurteil von Miami gegen die fünf kubanischen Männer publik zu machen. Wie sehen Sie deren Rolle während der Berufungsphase?

[LW] In jedem politischen Prozeß, in den ich involviert war, waren das Wachstum und die Größe der Unterstützung entscheidend für ein gutes Ergebnis. Natürlich brauchen wir kein Gericht einzuschüchtern. Wir brauchen niemandem im Prozeß Angst zu machen, aber Tatsache bleibt, dass unser Berufungsverfahren simpel ist.

Wir bitten das Gericht ganz einfach, den klaren Vorgaben des Gesetzes zu folgen, und wenn das Gericht daran denkt und erfährt, dass das Volk der Vereinigten Staaten und der ganzen Welt den Prozeßverlauf beobachtet, werden sie ermutigt sein, das Richtige zu tun und das Gesetz befolgen. Den Fünfen ein neues Verfahren zu verwehren, wäre eine Peinlichkeit für jedes Gericht angesichts des Wesens des Gesetzes und der Fakten.

So wird jedes Gericht sich hüten, sich dieser Peinlichkeit auszusetzen, wenn die Welt zusieht, und das war so in jedem politischen Prozeß, in den ich involviert war, von Angela Davis über die Chicago Eight bis zu den Pentagon Papers, alle hatten ein gutes Endergebnis, hauptsächlich weil das Gericht die Notwendigkeit spürte, dem Gesetz zu folgen und ein gerechtes Urteil zu fällen.

Das schlimmste, das jemandem im [US-]amerikanischen Rechtssystem passieren kann, ist es, allein und vergessen zu sein. Dann können sie dir das antun, wozu sie Lust haben. Aber wenn dein Fall und deine Unterstützung bekannt sind, sind sie verpflichtet, das Gesetz zu befolgen. Und wenn in diesem Fall das Gesetz befolgt wird, werden sie ohne Zweifel ein neues Verfahren bekommen.

Das ist es, was im Fall der Miami Five passieren sollte. Wir müssen kein Gesetzeswerk zitieren. Es ist offensichtlich. Wir müssen die Fakten nicht zitieren. Jeder kennt die Fakten von Miami. Du kannst in jeder Straße von Miami zehn Menschen fragen, ob fünf Kubaner hier ein faires Verfahren bekommen könnten. Sie würden dich auslachen. Also das Gesetz ist klar. Das Gericht würde sich lächerlich machen, wenn es diesen Prozeß als faires Gerichtsverfahren bezeichnen würde. Also je mehr Menschen beobachten, je mehr Menschen klar machen, dass sie hier kein Fehlurteil akzeptieren würden, desto wahrscheinlicher ist es, dass sie sich in der Berufung durchsetzen.

Dieses Interview wurde von Bernie Dwyer geführt und am 5. und 6. Juli 2003 von Radio Havana Cuba ausgestrahlt.

Deutsch: ¡Basta Ya!

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