René

 

  

Brief von René an seinen Bruder Roberto

1. März 2012

Du Bruder meines Lebens,

ich hätte nie gedacht, diesen Brief schreiben zu müssen. Uns beiden fehlt der Enthusiasmus zum Briefschreiben, eine Tatsache, die während unserer jeweiligen internationalen Aufgaben eindeutig zu Tage trat und noch eindeutiger während der einzigartigen Erfahrung der letzten 20 Jahre. Mit anderen Worten, nur die außergewöhnlichen gegenwärtigen Umstände veranlassen mich zu schreiben.
Unter normalen Umständen sollten diese Dinge von Angesicht zu Angesicht gesagt werden, und eine Menge davon brauchte überhaupt nicht gesagt zu werden. Du hast genug mit dieser regelrechten Schlacht gegen eine Erkrankung zu tun, die Dich droht aufzufressen, ohne Dich obendrein noch einem Gebrechen der Menschheit stellen zu müssen, das noch tödlicher ist: der Hass.
  René und Roberto
Der Hass, der mir nicht erlaubt, Dir für all Deine hin- und hergehenden Bemühungen die wohlverdiente Umarmung von uns Fünf zukommen zu lassen.
Der Hass, der mich nicht mit Dir zusammen über jedes der Ereignisse, die auf Deinen enormen Mut zurückgingen, lachen lassen will.
Der Hass, der mich zwingt, bei jedem Geräusch Deines Atems am Telefon, raten zu müssen, wie es um die auf- und abgehenden Chancen in Deiner jetzigen Schlacht bestellt ist.
Der Hass, der mir den Schmerz bereitet, mich nicht an der Sorge für die beteiligen zu können, die Dich lieben, und der mich daran hindert, für Sary und die Jungen da sein zu können.
Der Hass, der mich daran hindert, unsere Neffen und Nichten aufwachsen zu sehen; sie sind in den letzten Jahren zu Männern und Frauen geworden. Wie stolz musst Du auf Deine Kinder sein!
Der Hass, der mich daran hindert, einfach nur meinen Bruder zu umarmen. Der mich nötigt, nach einer absurden und fernen Gefangenschaft mich einem Prozess zu unterziehen, den jeder, der eine Gefängnisstrafe abgesessen hat, durchlaufen muss, einen ziemlich langen und nur aus Hass auferlegten Prozess, der ihm aber noch nicht ausreicht.
Was kann man gegen soviel Hass unternehmen? Das, was wir immer getan haben, ich glaube: Lieben, leben und dafür kämpfen, sowohl für uns als auch für andere. Jedem Hindernis mit einem Lächeln auf den Lippen begegnen, mit einer passenden Witzelei und dem Optimismus, der uns schon als Kinder vermittelt wurde. Weitermachen, hartnäckig beharren, niemals aufgeben, immer gemeinsam Schulter an Schulter, wie sehr sie auch immer versuchen, mich von meiner Familie und meinen Freunden zu isolieren, um uns auf diese Weise alle zu bestrafen.
Heute erinnerte ich mich an Deine großen Tage als Sportler. Du im Schwimmbecken und wir am Beckenrand Deinen Namen rufend, während Du schwammst. Unsere Stimmen erreichten Dich mit Unterbrechungen, wenn Du gerade den Kopf hobst, um Luft zu holen. Du erzähltest uns, dass Du manchmal Deinen ganzen Namen hörtest, ein andermal nur den Anfang oder das Ende. Also übten wir, so lange zu warten, bis Dein Kopf über Wasser war, und dann riefen wir alle unisono Deinen Namen. Du konntest uns nicht sehen, aber der Lärm, den wir machten, zeigte Dir, dass wir bei Dir waren, auch wenn wir nicht direkt in den leidenschaftlichen Kampf, der im Schwimmbecken geführt wurde, eingreifen konnten.
Die Geschichte wiederholt sich jetzt. Während Du all' Deine Kraft diesem Kampf widmest, bin ich hier und feure Dich an, jetzt gemeinsam mit der Familie, die Du damals noch nicht hattest. Obwohl Du mich nicht sehen kannst, weißt Du, dass ich da bin, gemeinsam mit den Deinen, die auch meine sind. Du weißt, dass dieser Bruder in seinem sonderbaren Exil, mit dem Schmerz der erzwungenen Trennung, unter der absurdesten Bedingung der überwachten Freiheit, auf der Basis des kubanischen Patrioten (wie Du) und der von den Banden der Verwandtschaft genährten Zuneigung und der gemeinsamen Erfahrung, die uns vereint, bei Dir ist und es immer sein wird. Jedes Mal, wenn Du Deinen Kopf erhebst, kannst Du mich rufen hören, gemeinsam mit meinen Neffen und Nichten.

Hol Luft, Bruder, hol Luft!!

Dein Dich liebender Bruder

René

 

Zurück